Mysteriensonaten

Heinrich Ignaz Franz Biber

Es war ein denkwürdiges Konzert im Mai 2004 in der Allerheiligenhofkirche der Münchner Residenz: in einer 3-stündigen triumphalen Tour de Force führte das Ensemble Lyriarte mit dem Geiger Rüdiger Lotter die Mysteriensonaten (Rosenkranzsonaten) von Heinrich Ignaz Franz Biber auf. Dieser hochvirtu-ose Zyklus erfordert in jeder seiner 16 Sonaten eine andere Stimmung der Violine, auf die sich der Solist jeweils einstellen muss. Höchstanforderung an Konzentration und musikalische Vorstellungskraft des Solisten. Nun erscheint der Mitschnitt dieses Konzerts als erste Live-Einspielung der Mysteriensonaten überhaupt auf Tonträger.


Das Geheimnis der Rosenkranzsonaten

Rüdiger Lotter

Die Sonaten über die fünfzehn Mysterien des Rosenkranzes stellen einen der ungewöhnlichsten Kompositionszyklen des 17. Jahrhunderts und der Musikgeschichte überhaupt dar. Die einzig bekannte Überlieferung dieser Violinsonaten liegt als kalligraphische Handschrift in der Bayerischen Staatsbibliothek München. Jeder Sonate des Zyklus sind Kupferstiche vorangestellt, auf denen die 15 Geheimnisse des Rosenkranzes abgebildet sind. In der Musikgeschichte einmalig ist Bibers Verwendung der Skordatur; Biber schreibt für den Zyklus insgesamt 15 unterschiedliche Stimmungen der Violine vor. Diese außergewöhnliche Skordaturhäufung hat immer wieder Anlass zu der Frage gegeben, welche Absicht Biber mit dieser für die Aufführung der Sonaten eher unkomfortablen Kompositionsweise verfolgt haben könnte. Auf diese Frage versucht der Interpret der vorliegenden Aufnahme eine neue Antwort zu geben und zugleich auch das Rätsel um die mysteriöse Widmung Bibers zu lösen, die dem Rosenkranzzyklus vorangestellt ist.

Heinrich Ignaz Franz Biber zählt zusammen mit Johann Heinrich Schmelzer, Johann Jacob Walther und Johann Paul von Westhoff zu den bedeutendsten Repräsentanten der deutschen Violinschule vor 1700. Als Violinvirtuose war er eine singuläre Erscheinung seiner Zeit. Geboren wurde Biber 1644 in der kleinen Stadt Wartenberg nahe Reichenberg (heute Liberec, Tschechien) in Nordböhmen. Laut Taufurkunde wurde Biber nur auf den Namen Hennericus (Heinrich) getauft. Dass er später bei Widmungen und in Briefen auch die Vornamen Ignaz und Franz hinzufügte, ist wahrscheinlich als Hinweis auf seine jesuitische Ausbildung zu verstehen (mehrere Heilige dieser Namen gingen aus den Reihen der Jesuiten hervor). Nach einer Hypothese des Musikwissenschaftlers Jirí Sehnal und in Übereinstimmung mit Bibers Bildungsgrad verbrachte Biber mindestens einen Teil seiner Ausbildung am Jesuitengymnasium in Troppau. Das Beten des Rosenkranzes gehörte für Biber wahrscheinlich zum Alltag, so lesen wir in der „Ratio studiorum“ der Jesuiten: „Die Knaben (…) unterrichte der Lehrer so, dass sie zugleich mit den Wissenschaften besonders die eines Christen würdigen Sitten sich aneignen (…) er ermahne vorzüglich (…) zur täglichen Abbetung des Rosenkranzes oder der Tageszeiten Mariä…“

Ein paar Erläuterungen zum Rosenkranz selbst: In seiner ab etwa 1600 verbindlichen Grundgestalt umfasst das Rosenkranzgebet 15 Paternoster und 150 Ave Maria, die in drei Teile, den Freudenreichen, den Schmerzensreichen und den Glorreichen Rosenkranz untergliedert sind. Jedem dieser drei Hauptteile wird das Apostolische Glaubensbekenntnis vorangestellt. Während des Betens der 15 Gesätze soll je eines der 15 Rosenkranzgeheimnisse betrachtet werden. Der Ausdeutung der Strukturzahlen des Rosenkranzgebets wurde breiter Raum gewidmet, vor allem die Zahl 5 als ganzzahliger Teiler aller weiteren Strukturzahlen des Rosenkranzgebets wurde von den Rosenkranzbruderschaften eingehend mit biblischen Bezügen untermauert.

Kommen wir nun zur Bedeutung der Zahl als strukturgebendes Element allgemein:

„Alle Werck Gottes seynd in gewisser Zahl, Maß und Gewicht“ (sap.11)

Dass hinter allen Erscheinungsformen der Schöpfung eine auf Zahlen beruhende Ordnung herrsche, lässt sich als Kernaussage barocken Denkens bezeichnen. Diese aus dem Mittelalter übernommene und in der Renaissance durch die Lehre von Pythagoras und Plato bestärkte Grundannahme lässt sich in allen Quellen der Zeit finden. Jede Wissenschaft galt dem Barock als von einer durch die Zahl geformten Regelmäßigkeit und Regelhaftigkeit geprägt. Interessant ist dabei, dass sich bedeutende Gelehrte wie Galilei, Fludd, Kepler, Euler oder Leibniz, die uns heute vor allem unter dem Aspekt des Mathematikers oder Astronomen im Gedächtnis geblieben sind, sämtlich auch mit musiktheoretischen Fragen auseinander setzten. Dem lag eine umfassende Ausbildung zugrunde, die unter dem Begriff Quadrivium alle zahlbezogenen Wissenschaften vereinte. Die quadriviale Ausbildung an den Universitäten umfasste die Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Harmonie (Komposition) und Astronomie. Dass die Kompositionslehre den mathematischen Wissenschaften zugeordnet war, erscheint uns heute als seltsam. Die Kompositionslehre des 17. Jahrhundert basierte aber auf einer völlig anderen Ästhetik als der, die uns heute geläufig scheint. Dass auch Komponisten des 17. Jahrhunderts in allen vier Wissenschaften über umfassende Kenntnisse verfügten, lässt sich zum Beispiel anhand eines kunstvollen Zahlenrätsels Kuhnaus in seiner Vorrede zu den „Biblischen Historien“ nachweisen und auch bei Biber finden wir zum Beispiel in der Vorrede zu seinen 1681 bei Löhner in Nürnberg erschienenen acht Violinsonaten Hinweise auf mathematische Kenntnisse. In der Widmung zu diesen Sonaten liest man:

„(…) es wird, glaube ich, nicht weniger Wert haben, wenn ich die arithmetische Reihenfolge ungenügend beachtet habe (…) In diesem meinem Solo herrscht nämlich eine Zahlenordnung, die, wie ich überzeugt bin, durch Vielfalt ergötzen kann.“

Dass Biber auch den Rosenkranzzyklus als ein auf der Basis der Zahl geordnetes Kunstwerk konzipiert hat, konnte der Musikwissenschaftler Dieter Haberl in seiner Dissertation „ordo arithmeticus“ (Salzburg, 1995) umfassend nachweisen. Schon bei Betrachtung der Gesamtanlage begegnet man Auffälligkeiten, so erklingen im gesamten Zyklus 2772 Takte. Diese Zahl weist einerseits symbolisch auf die 72 Bücher der heiligen Schrift, von denen 27 Bücher das neue Testament bilden. Andererseits ist sie Ausgangspunkt einer großangelegten Gesamtdisposition. So lassen sich beispielsweise von den 16 Sonaten drei Sonatentaktzahlen als Vielfaches der zweiten perfekten Zahl, der 28 darstellen (168=6x28, 112=4x28, 224=8x28, (6+4+8)x28=18x28). Addiert man die Taktzahlen der übrigen Sonaten, so erhält man die Zahl 2268, die das 81fache von 28 ist. Auch die Summe der beiden gefundenen Faktoren 18 und 81, die Zahl 99, ist von Bedeutung, lässt sie sich doch als Produkt der göttlichen Zahl 3 und dem Lebensalter Jesu, der 33, darstellen. Von Dieter Haberl wurden in den Mysteriensonaten zahlreiche weitere Zahlenzusammenhänge aufgedeckt. Dabei erwiesen sich immer wieder die „heiligen“ Zahlen 3, 7 und 12 ebenso wie die ersten drei perfekten Zahlen 6, 28 und 496 als zentrale Bausteine für mannigfaltige Konfigurationen.

Ein neues Erklärungsmodell für die Skordatur

Die vorliegende Aufnahme wurde als Konzertmitschnitt zum 300. Todestag Bibers realisiert. Aufgrund der besonderen Gegebenheiten eines Live-Mitschnitts musste verhindert werden, dass sich die Saiten unbeabsichtigt verstimmten. Der Autor und Interpret dieser Einspielung stellte deshalb eingehende, aufführungspraktisch motivierte Betrachtungen über die Skordaturverläufe der einzelnen Sonaten untereinander an.

Es stellte sich heraus, dass man, um das Halten der jeweiligen Stimmung zu gewährleisten, den Zyklus mit mindestens drei Violinen aufführen muss. Der Autor fand ausgehend von den ersten drei mit drei verschiedenen Violinen gespielten Sonaten folgende drei Skordaturstränge:

Violine 1: Sonata 1, 5, 6, 10, 11, 15
Violine 2: Sonata 2, 4, 7, 9, 11, 14
Violine 3: Sonata 3, 8, 13

Bei der Verteilung der Sonaten auf die drei Violinen wurde im Wesentlichen auf ein sinnfälliges Verhältnis zwischen zeitlichem Abstand und dem Ausmaß der Verstimmung zweier verschiedenartiger Stimmungen geachtet.

Zusammengesetzt ergab dies für den Ablauf : V1V2V3V2V1 V1V2V3V2V1 V1V2V3V2V1

Die Auffälligkeit der symmetrischen Anlage der Skordaturen bot Anlass für weitergehende Untersuchungen:

Violine 1 sind die Skordaturen der 6 Sonaten 1, 5, 6, 10, 11, 15 zugeordnet
Addiert man diese Zahlen, so erhält man: 48=4*12

Violine 2 sind die Skordaturen der 6 Sonaten 2, 4, 7, 9, 12, 14 zugeordnet
Auch hier erhält man: 48=4*12


Violine 3 sind die Skordaturen der 3 Sonaten 3, 8, 13 zugeordnet
Hier erhält man den Wert 24= 2*12.
Die aus aufführungspraktischen Erwägungen jeder Violine zugewiesenen Sonatenziffern stehen addiert offensichtlich in einem sinnfälligen, als Vielfaches der biblisch bedeutsamen Zahl 12 darstellbaren Verhältnis zueinander.

Addiert man die Skordaturverläufe der 16 für die Aufführung notwendigen Skordaturen (notiert sind nur 15 Skordaturen, die 16. Sonate wird wieder in der normalen Violinstimmung ausgeführt), so findet man dort grafisch die Anzahl der klingenden Takte des Gesamtzyklus verborgen (dabei werden alle erklingenden Takte inklusive der von Biber vorgeschriebenen Satzwiederholungen gezählt):

Durch horizontale Addition der Intervallziffern (z. B. Terz=3, Sekunde=2, Prim=1) ergibt sich nämlich für V1:

Für V1 ergibt sich also die Zahl 33. Nach demselben Prinzip ergibt sich für V2 die Zahl 39 und für V3 die Zahl 27.

V1 + V2 = 33 + 39 =72

V327



Auch hier wird der symbolische Bezug zu den 72 Büchern der heiligen Schrift und den 27 Büchern des Neuen Testamentes deutlich! In Analogie zu Haberls Betrachtungen über die Bildung der Gesamttaktzahl 2772 als Produkt von 28 und der Summe der Zahlen 18 und 81 (=99) findet sich auch in den Skordaturen eine Verknüpfung der Zahl 2772 mit der Zahl 99, hier über die drei Zahlen 33, 39 und 27 (33+39+27=99). Die Skordaturen sind also im Gegensatz zu bisherigen Annahmen ausschließlich mathematisch motiviert. Sie bilden gemeinsam mit der Disposition der Gesamttaktzahl den Rahmen der kompositorischen Arbeit Bibers. Dass Biber über die Zahl 2772 zwei verschiedene, den weiteren Verlauf der Komposition strukturierende Ebenen (Skordatur- und Taktzahlebene) miteinander verknüpft, gab Anlass zu weiteren Überlegungen, die den Autor über die rätselhafte Vorrede der Mysteriensonaten direkt zur Weltenharmonie von Johannes Kepler führte.

Die Vorrede zu den Mysteriensonaten Die Harmonie, die ich der Sonne der Gerechtigkeit und dem Mond ohne Fehl gewidmet habe, überreiche ich Dir als dem dritten Licht, das Du von den beiden göttlichen Lichtern empfangen hast. Denn als Sohn in heiliger Würde glänzend, verteidigst DU als Unvermählter die jungfräuliche Würde der Mutter. (…) Du wirst meine mit vier Saiten bespannte und in fünfzehnfachem Wechsel gestimmte Leier in verschiedenen Sonaten (…) in Verbindung mit dem basso continuo vernehmen, in Stücken, die ich mit viel Fleiß, und soweit ich es vermochte, mit großer Kunstfertigkeit ausgearbeitet habe. (…)“

Wie man der Vorrede entnehmen kann, widmet Biber die Sonaten über die Geheimnisse des Rosenkranzes nicht seinem Dienstherren Erzbischof Maximilian Gandolph, sondern „der Sonne der Gerechtigkeit und dem Mond ohne Fehl“. Er überreicht die Komposition seinem Dienstherren lediglich, was ziemlich ungewöhnlich wirkt. Bislang wurde davon ausgegangen, dass Biber mit den Wörtern Sonne und Mond auf liturgisch gebräuchliche Metaphern für Christus und Maria anspielt. Würde sich Biber mit diesen Metaphern aber wirklich auf Christus und Maria beziehen, wäre die Reihenfolge falsch gewählt, da der Rosenkranz als marianisches Gebet Maria in den Mittelpunkt der Anbetung rückt, weshalb diese in der Widmung an erster Stelle stehen müsste. Des Weiteren stellt sich die Frage, warum Biber dem Erzbischof in kunstvoller Verschleierung überhaupt bedeutet, er habe diese Komposition Christus und Maria gewidmet. Denn dies ergab sich doch aus der Komposition und vor allem aus den Kupferstichen selbst. Ein paar Zeilen weiter findet sich eine weitere Metapher, die sich dadurch auffällig macht, dass sie nicht wirklich passt: Biber spricht von der 15fach verstimmten Leier. Die Leier ist im Gegensatz zur Violine ein Zupfinstrument, weshalb Biber es wohl kaum ausschließlich als kunstvoll gewähltes Synonym für die Violine benutzt haben wird. Bei Nachforschungen über die Bedeutung der Leier stieß der Autor auf einen interessanten Hinweis.

Das Sternbild der Leier gilt als Symbol für das Harmoniedenken in der Astronomie.

Die Harmonices Mundi von Johannes Kepler

Die Harmonietafeln (S.15) sind den berühmten, 1619 in Linz erschienenen „Harmonices Mundi“ von Johannes Kepler entnommen. In diesem fünfbändigen Werk weist Kepler nach, dass sich die sechs damals bekannten Planeten von der Sonne aus betrachtet in harmonischen Proportionen zueinander bewegen. Mit seiner Entdeckung wähnte Kepler sich endlich am Ziel einer lebenslangen Suche nach einem wissenschaftlichen Beweis für eine schon von den Pythagoräern propagierte Weltharmonie. In den „Harmonices Mundi“ finden sich ausgehend von geometrischen Überlegungen umfangreiche musiktheoretische Betrachtungen, die auf Erkenntnisse der Pythagoräer zurückgehen und von Kepler zum Teil erweitert werden. Im fünften Buch, Kapitel 10 der „Harmonices Mundi“ stellt Kepler in einem großen „Epilog über die Sonne mit mutmaßlichen Annahmen“ fest:

„(…) es werden auf der Sonne auch von der ganzen Provinz der Welt nach dem Recht des Königtums gleichsam Abgaben angesammelt, die in einer höchst lieblichen Harmonie bestehen(…) Kurz, es ist in der Sonne der Hof, die Pfalz, der Palast, das Königsschloss des ganzen Naturreichs (…)

Vielleicht wird schon anhand dieses kurzen Zitats deutlich, worauf Biber in seiner Vorrede mit seiner Metapher „Sonne der Gerechtigkeit“ abzielt:

„es werden auf der Sonne nach dem Recht des Königtums (…) Abgaben gesammelt, die in einer höchst lieblichen Harmonie bestehen“.

„es werden auf der Sonne nach dem Recht des Königtums (…) Abgaben gesammelt, die in einer höchst lieblichen Harmonie bestehen“.

„in diese Betrachtung fügt sich auch der Mond ein. Es zeigt sich nämlich, dass seine stündliche Bewegung im Apogäum (…) gleich 26’26’’ ist; dagegen die im Perigäum (…) gleich 35’12’’ Dieses Verhältnis bildet aufs Genaueste eine Quart. (Hervorhebung des Autors) (…) Man bemerke auch, dass sich die Quart unter den scheinbaren Bewegungen sonst nirgends findet (…)“

Die harmonische Bewegung des Mondes ist laut Kepler ohne Makel, da die anderen Planeten meist nur ungefähr in harmonischen Verhältnissen zueinander stehen. Die Entsprechung zu Bibers „Mond ohne Fehl“ ist eindeutig. Der Leser, der jetzt noch an einer Bezugnahme Bibers auf Kepler zweifelt, sei auf die Fußnote im 7. Kapitel des 5. Buches der „Harmonices Mundi“ verwiesen:

„(…) Ist es unverschämt von mir, wenn ich den einzelnen Komponisten unserer Zeit eine kunstgerechte Motette für meinen Lobpreis fordere? Einen geeigneten Text könnten (…) die heiligen Bücher liefern. (…) Liefert Eure Beiträge; (…) Wer die in meinem Werk dargestellte Himmelsmusik am besten ausdrückt, dem stellt Klio ein Blumengewinde in Aussicht und Urania verheißt ihm die Venus als Braut.“

Da Biber die Rosenkranzsonaten in seiner Vorrede „der Sonne der Gerechtigkeit“ und dem „Mond ohne Fehl“ widmet und im weiteren Verlauf außerdem noch über die Metapher der Leier auf das Harmoniedenken in der Astronomie anspielt, liegt nun endgültig die Vermutung nahe, dass Biber die Sonaten im eigentlichen Sinn dem Entdecker der Weltharmonie gewidmet hat, Johannes Kepler. Dass Biber den Rosenkranzzyklus, der sich gewissermaßen als Prunkstück der Gegenreformation betrachten lässt, dem wissenschaftlichen Werk eines Protestanten widmet, mutet schon fast ein wenig dreist an. Zumal wenn man bedenkt, dass sein Dienstherr Erzbischof Maximilian Gandolph gerade (1684) in einem Akt menschlicher Grausamkeit sämtliche Protestanten aus dem Erzstift vertreiben ließ.

Das Mysterium des Rosenkranzzyklus

Die These, Biber beziehe sich mit den Rosenkranzsonaten unmittelbar auf die Entdeckungen Keplers, lässt sich weiter erhärten, wenn man sich noch einmal den Skordaturen zuwendet. Im bereits zitierten 7. Kapitel des 5. Buches findet Kepler vier Gesamtharmonien aller sechs Planeten, gibt aber einschränkend zu bedenken: Die These, Biber beziehe sich mit den Rosenkranzsonaten unmittelbar auf die Entdeckungen Keplers, lässt sich weiter erhärten, wenn man sich noch einmal den Skordaturen zuwendet. Im bereits zitierten 7. Kapitel des 5. Buches findet Kepler vier Gesamtharmonien aller sechs Planeten, gibt aber einschränkend zu bedenken: Nun lässt sich die Metapher vom Anfang der Zeit wiederum gleichsetzen mit dem Schöpfer selbst. Sollte Biber eine dieser Gesamtharmonien als Skordatur umgesetzt haben, so wäre ein sinnfälliger Zusammenhang nur in der Sonate Christi Himmelfahrt gegeben; denn hier kehrt der Sohn zum Vater zurück. Biber verwendet in der Sonate Christi Himmelfahrt eine Skordatur mit den Tonbuchstaben c-e-g-c. Die zweite der von Kepler gefundenen Gesamtharmonien entspricht genau diesen Tönen (siehe abgebildete Tafeln). Der in den Himmel aufgefahrene Jesus wird also im Himmel mittels Intrada und Aria Tubicinum der 12. Sonate von einer der vier göttlichen Gesamtharmonien des Schöpfers begrüßt. Dass sich Biber also mit einer der 15 Skordaturen explizit auf die von Kepler gefundenen Planetenharmonien bezieht, wirft die Frage auf, ob auch die anderen Skordaturen harmonische Abbildungen von Planetenkonstellationen darstellen. Der Autor ist der Auffassung, dass die Skordaturen zumindest symbolisch auf mögliche Planetenharmonien verweisen. In einem umfassenden Sinne lassen sie sich als 15 dem Notentext vorgeschriebene Erscheinungsformen der göttlichen Harmonie betrachten. Der Notentext selbst repräsentiert als Zeichen für die ars humana den Bereich des Irdischen. Werden die Sonaten nun aufgeführt, geschieht etwas Großartiges, das hier wirklich als Mysterium bezeichnet werden kann: Über die Zahl 2772, die symbolisch auf die heilige Schrift verweist, wird die Skordaturebene (als Bedeutungsträger für den „Himmel“, das Jenseits) mit der Taktzahlebene (als Bedeutungsträger für die „Erde“, das Diesseits) verknüpft. Denn die Zahl 2772 erscheint sowohl auf Taktzahl- als auch auf Skordaturebene nur durch vollständige Ausführung des Zyklus. Dazu müssen, wie im Vorigen dargelegt, alle 16 Sonaten inklusive der von Biber vorgezeichneten Wiederholungen erklingen. (16 als Quadratzahl der Zahl 4; 4 ist das Zahlensymbol für „irdisch“). Hingegen bleibt es bei 15 Skordaturen, da sich die 16. Sonate wieder der Skordatur der 1. Sonate bedient. Die Skordaturebene bleibt also dem Jenseits zugeordnet. Da eine Verknüpfung der Skordatur- und Taktzahlebene über die Zahl 2772 für den Zuhörer weder akustisch noch verstandesmäßig unmittelbar nachvollziehbar ist, darf man vermuten, dass Biber sich mit diesem „Geheimnis der Rosenkranzsonaten“ an Gott selbst richtet. Er bringt auf diese Weise dasselbe zum Ausdruck wie Johannes Kepler, der seine „Harmonices Mundi“ mit den Sätzen beschließt:

„Lobpreist ihn, ihr himmlischen Harmonien, lobpreist ihn, ihr alle, die ihr Zeugen der nun entdeckten Harmonien seid! Lobpreise auch Du, meine Seele, den Herrn deinen Schöpfer, solange ich sein werde. Denn aus ihm und durch ihn und in ihm ist alles. Das, was mit den Sinnen erfasst, wie das, was wir wissen und was nur einen kleinen Bruchteil von jenem ausmacht; denn mehr noch liegt darüber hinaus. Ihm sei Lob, Ehre und Ruhm in alle Ewigkeit. Amen.“

Der Text, den Sie gerade gelesen haben, umfasst übrigens genau 2772 Wörter. Der Autor möchte dies aber nicht als Zahlenspielerei verstanden wissen, sondern hier vielmehr eine – wenn auch sehr einfache – Analogie zum Notentext herstellen und auf einer weiteren Ebene zeigen, dass der Gebrauch des ordo arithmeticus ein durchaus sinnfälliges Mittel ist, um auch einen Text vor der Gefahr formaler Beliebigkeit zu bewahren. Mit der Zahl 2772 ergab sich in diesem Fall eine übergeordnete Motivationshilfe, den Aufsatz adäquat auf die Länge eines Booklettextes zuzuschneiden. Die vollständige Veröffentlichung erschien im Sommer 2005 in der Zeitschrift „CONCERTO“.