Music for violins
Der Geiger Rüdiger Lotter, der mit seinem Ensemble Lyriarte zu den Aufsteigern der Alte-Musik-Szene zählt, hat die Zeichen der Zeit erkannt: Zunehmend kommt es im Konzertleben zum direkten Austausch zwischen Protagonisten der historisch informierten Interpretationspraxis und der so genannten „Neuen Musik“. Als Dialogpartner für seine neue CD wählte Rüdiger Lotter den Geiger Irvine Arditti, der als Gründer des weltweit renommiertesten Streichquartetts für Neue Musik Geschichte geschrieben und beeinflusst hat. Auf dieser SACD hören wir die Interpreten sowohl mit Solowerken auf ihrem jeweiligen „Heimat-Terrain“ als auch in Duokompositionen von Biber und Berio, wo sich die interpretatorischen Positionen direkt im Zusammenspiel begegnen. Eine spannende Hörerfahrung, die zeigt, wie eng doch letztlich die musikalischen Bezüge über alle epochalen Grenzen hinaus gespannt sind!
„Zweifellos habe ich in meinem ganzen Leben einen Schatz verschiedenartigster Erfahrungen zusammengetragen, wobei ich mich immer darum bemüht habe, praktische Erfahrungen im Umgang mit musikalischem Material zu machen, sei es solches der Vergangenheit, sei es solches der Gegenwart. Es mag sein, dass dies Verlangen, alles zu kennen und zu beherrschen, in gewissem Sinne faustisch ist – ich weiß noch nicht, ob und wie ich dafür bezahlen muss oder ob schon jemand statt meiner dafür büßt.“
Luciano Berio
Das Abendrot des Historismus in der Musik
von Rüdiger Lotter
Was vom staunenden Publikum in seinen Anfängen bestenfalls mit Verwunderung aufgenommen wurde, hat sich mittlerweile zur allgemeinen Lehrmeinung aufgeschwungen, die Idee nämlich, Musik vergangener Gesellschaftsformen historisch informiert aufzuführen. Dabei gelangten Musiker zu der Erkenntnis, dass es durchaus sinnvoll sein kann, sich dem Notentext nicht nur auf werkimmanente Weise zu nähern, sondern darüber hinaus auch noch auf die Erkenntnisse der Musikwissenschaft zurückzugreifen. Das hat eine Tür aufgestoßen zu einer ganz neuen Sicht auf die großen Meisterwerke der Musikgeschichte. Althergebrachte Interpretationsmodelle wurden erst einmal grundsätzlich in Frage gestellt, um sie dann mit großer Genugtuung beiseite zu räumen. Man denke nur – stellvertretend für andere – an die Einspielung der Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach durch Musica Antiqua Köln und ihren Vordenker Reinhard Goebel. Das war neu, war provozierend, rief Widerspruch hervor, und hier wurde in beispielhafter Weise eine Diskussionsgrundlage geschaffen für einen Schlagabtausch, der in dieser Form bis dahin überhaupt nicht stattgefunden hatte. Dieser sich bereits in den sechziger Jahren abzeichnende Prozess führte bald zu einer erbitterten Konfrontation der sich herausbildenden Lager:
Auf der einen Seite formierte sich eine beständig wachsende Zahl von glühenden Verfechtern der historischen Aufführungs-praxis, die in ihrer extremen Ausformung nahezu jedem Wink der sogenannten Quellen mit einer uns heute schon grotesk anmutenden Akribie nachgingen. Auf der anderen Seite thronte gewissermaßen das Establishment der ernsten Musik, staatlicherseits als Kulturorchester und Musikhochschule in feste Form gegossen. Die dort kulturschaffenden Musiker galten der Gegenseite als strukturkonservative Kräfte, die mit selbstverständlicher Arroganz an ihrem musikalischen Weltbild festhielten und die Vertreter der historischen Aufführungspraxis als Musiker zweiter Klasse herabwürdigten.
Heute gibt es nur noch vereinzelt Musiker, die die Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis nicht für sich in Anspruch nehmen möchten. Das Feindbild auf beiden Seiten ist verschwunden, die These der Antithese gewichen. Kaum noch ein traditionelles Orchester, das sich mit Barockmusik auf die Bühne traut, wenn nicht einer der ehemals heftig bekämpften Alte-Musik-Vordenker ihnen die Welt erklärt. Historische Aufführungspraxis ist schick und à la mode und die Frage nach dem tieferen Sinn dieser Entwicklung lässt sich auch mit den veränderten Hörgewohnheiten des Konzertgängers und damit verbunden mit der Bedienung eines Marktsegments beantworten, an dem alle in irgendeiner Weise teilhaben wollen. Spätestens als Nikolaus Harnoncourt vor ein paar Jahren die Wiener Philharmoniker durchs Neujahrskonzert führte, wurde offenbar, dass sich die erbitterten Gegner von einst auf einen gemeinsamen Nenner geeinigt zu haben schienen.
Im Zuge dieser Entwicklungen findet sich plötzlich manch international gefragter Solist unerwartet in der Rolle des aufbegehrenden Revoluzzers, nur weil er die Werke des Barock und der Klassik immer noch so spielt, als seien die Entwicklungen der vergangenen 50 Jahre spurlos an ihm vorübergezogen. Die Erwartungshaltung des Konzertgängers hat ihn gewissermaßen von links überholt und rügt den renitenten Künstler kopfschüttelnd ob seiner altmodischen Interpretationshaltung: „So kann man Bach heute ja nicht mehr spielen!“ Aber warum kann man heute nicht mehr so spielen? Man konnte doch früher auch! Gibt es überhaupt ein Recht der Komposition auf historische Aufführungspraxis?
Vielleicht gibt es ein Recht der Komposition auf eine ihrem inneren Gehalt gerecht werdende Ausführung. Wenn man das Postulat ernst nimmt, Musik sei Klangrede, was man mit einigem Recht für die Instrumentalmusik des 17. und 18. Jahrhunderts annehmen darf, dann erfordert diese Musik eine profunde Kenntnis der jeweiligen Syntax ebenso wie das Wissen um richtige Aussprache und Betonung. Unkenntnis führt hier nicht selten zu Unverständlichkeit. Zur Interpretation der hier vorgelegten Violinsonaten von Biber beispielsweise scheint es unerlässlich, sich der Werkzeuge der historischen Aufführungspraxis zu bedienen, weil sich über diesen Ansatz aus der Komposition neben aller Virtuosität auch eine emotionale Tiefe herauslesen lässt, die ohne solche Kenntnisse sicher verborgen bliebe.
Wo aber liegt die Zukunft der historischen Aufführungspraxis, jetzt, da alles erreicht, das Publikum umerzogen ist und es nichts mehr zu bekämpfen gibt? Will man sich mit immer feineren wissenschaftlichen Methoden einer Komposition nähern, und wenn ja, warum? Liegt in der beständigen Wiederbelebung und Wiederaufführung von Werken längst vergessener Komponisten ein Wert an sich, und wenn ja, in welchem Kontext stehen diese Kompositionen dann in Bezug auf unsere Gesellschaft?
Vielleicht leuchtet uns bereits das Abendrot eines Historismus in der Musik entgegen, der spätestens mit der Jugendmusikbewegung der 1920er Jahre seinen Anfang genommen hat. Anzeichen dafür gibt es durchaus, zum Beispiel wenn man sich anschaut, welche Entwicklung die bislang vom Publikum eher wohlgelittene zeitgenössische Musik zu nehmen scheint. Gerade das jüngere Publikum spricht in besonderer Weise auf sie an. Die Donaueschinger Musiktage sind inzwischen Jahr für Jahr ausverkauft, ja werden regelrecht gestürmt. Wer Festivals wie „Musica“ in Straßburg oder „Wien modern“ kennt, weiß von einem enormen Publikumsandrang, von ausverkauften Sälen, von traumhaften Auslastungszahlen zu berichten – vor allem aber von blühenden Interesse und quicklebendiger Atmosphäre. Und es entstehen erste Kooperationen zwischen den Vertretern beider Enden des Ernste-Musik-Spektrums: So arbeitet zum Beispiel das Freiburger Barockorchester seit einiger Zeit eng mit dem Ensemble Recherche zusammen. Die Ernst-von-Siemens Musikstiftung vergab im Jahr 2005 Kompositionsaufträge, die sich konkret auf ein Ensemble für historische Aufführungspraxis bezogen. Der Komponist Jörg Widmann sieht in seiner neuen Komposition Echo-Fragmente gleich zwei Orchester vor, ein Sinfonieorchester und ein Barockorchester. Es scheint sich ein Trend abzuzeichnen, bei dem Alt und Neu in einer Avantgarde ganz eigener Art zusammenfinden.
Auch die vorliegende Aufnahme weist in diese Richtung:
Mit Lyriarte treffen drei Spezialisten der Alten Musik auf einen der bekanntesten und bedeutendsten Spezialisten für Neue Musik, Irvine Arditti, der mit seinem nach ihm benannten Streichquartett Musikgeschichte geschrieben und beeinflusst hat.
Kompositionen von Heinrich Ignaz Biber und Luciano Berio werden gegenübergestellt und interagieren durch spezielle Aneinanderreihung der Werke miteinander. Dabei ergeben sich unerwartete Zusammenhänge zwischen den immerhin um 300 Jahre auseinander liegenden Kompositionen. Und die Bewertungsmaßstäbe verschieben sich; ein Werk etwa wie die 1976 entstandene Sequenza für Violine solo von Luciano Berio erfährt im Kontext einer der 1681 geschriebenen Sonaten a violino solo e basso von Biber eine Relativierung ihrer Modernität. Umgekehrt wirken die Kompositionen von Biber in Gegenüberstellung mit Kompositionen Berios überraschend aktuell. Durch die Hinzunahme einer Auswahl der zwischen 1979 und 1983 entstandenen Duetti für zwei Violinen von Luciano Berio und einer Partia der auf 1696 datierten Partiensammlung Harmonia artificioso-ariosa von Heinrich Ignaz Biber wurde zudem die Möglichkeit eröffnet, die Ausführenden mit dem jeweils anderen Fachgebiet zu konfrontieren und zugleich gewissermaßen einen roten Faden durch das Programm zu spinnen. In diesem Sinne spielt Rüdiger Lotter zusammen mit Irvine Arditti eine Auswahl der Duette von Luciano Berio, während Irvine Arditti umgekehrt das Experiment wagt, sich gemeinsam mit Lyriarte auf eine (skordiert geschriebene) Partia der Partiensammlung von Heinrich Ignaz Biber einzulassen. Damit soll aber nicht das von Luciano Berio im Zitat angedeutete „faustische Verlangen“ unterstrichen werden, alles kennen und beherrschen zu wollen. Vielmehr lässt sich diese Aufnahme als eine Möglichkeit betrachten, den Blick in die Zukunft zu richten und, statt immer wieder das Gegenwärtige im Vergangenen zu spiegeln, einmal genau den umgekehrten Weg einzuschlagen.
Luciano Berio Luciano Berio (* 24. Oktober 1925 ,† 27. Mai 2003 ) wurde in Oneglia, Italien geboren. Vater und Großvater, beide Organisten, lehrten ihn das Klavierspiel. Nach dem Krieg studierte Berio am Mailänder Konservatorium bei Giulio Cesare Paribeni und Giorgio Federico Ghedini. Durch eine im Krieg verletzte Hand am Klavierspiel gehindert, konzentrierte er sich auf das Komponieren. 1947 fand die erste öffentliche Aufführung eines seiner Werke statt, einer Suite für Klavier. Zu dieser Zeit verdiente Berio seinen Lebensunterhalt mit der Begleitung von Gesangsklassen; dabei lernte er die amerikanische Sopranistin Cathy Berberian kennen, die er 1950 heiratete. 1951 ging Berio in die Vereinigten Staaten, um in Tanglewood bei Luigi Dallapiccola zu studieren, der sein Interesse an serieller Musik weckte. Später nahm er an den Darmstädter Ferien-kursen für Neue Musik teil, wo er Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und Mauricio Kagel kennen lernte. Er begann, sich für elektronische Musik zu interessieren, und gründete zusammen mit Bruno Maderna in Mailand das Studio di Fonologia Musicale, ein Studio für elektronische Musik. 1960 kehrte Berio als „Composer in Residence“ nach Tanglewood zurück, und 1962 nahm er auf Einladung von Darius Milhaud eine Lehrstelle am Mills College in Oakland (Kalifornien) an. 1965 begann er, an der Juilliard School zu unterrichten, wo er das Juilliard Ensemble gründete, das sich der Aufführung zeitgenössischer Musik widmet. Währenddessen arbeitete Berio stetig an seinen Kompositionen. 1966 gewann er den Italian Prize für Labyrintus II, 1968 wurde mit großem Erfolg sein wohl bekanntestes Werk, die Sinfonia aufgeführt.1972 kehrte Berio wieder nach Italien zurück. Von 1974 bis 1980 war er Direktor der Abteilung für Elektroakustik am IRCAM in Paris. 1987 gründete er in Florenz das Tempo Reale, ein Zentrum mit ähnlicher Ausrichtung wie das IRCAM.Von 1994 bis 2000 war er „Distinguished Composer in Residence“ in Harvard. Er komponierte bis an sein Lebensende. Luciano Berio starb 2003 in Rom.
Heinrich Ignaz Franz Biber
Heinrich Ignaz Franz Biber (* 12. August 1644, † 3. Mai 1704): Der Ort seiner musikalischen Ausbildung ist nicht gesichert. Sein Name taucht in Quellen erstmalig am erzbischöflichen Hofe zu Olmütz und Kremsier auf, wo Karl Graf Liechtenstein Kastelkorn regierte und eine vorzügliche und wohlversorgte Kapelle unterhielt. Obwohl Biber sich offenkundig der Gunst seines Herrn erfreute, verließ er seine Stellung unter merkwürdigen und nicht geklärten Umständen im Jahre 1670. Nach Briefen Schmelzers an den Erzbischof, die uns auch das Datum seines Wegganges an die Hand geben – man nahm lange Zeit das Jahr 1676 dafür an –, scheint er beauftragt gewesen zu sein, bei dem berühmten Geigenbauer Jakob Stainer in Absam in Tirol Instrumente abzunehmen, zog es aber vor, nicht mehr zurückzukehren, sondern nahm bald Dienst bei dem Erzbischof von Salzburg. Schmelzer schreibt von einem „schändlichen Mißbrauch des Kammerdiener Franz Bibers“; er habe sich »insalutato hospite« empfohlen. In den ersten, seinem neuen Brotherrn Erzbischof Maximilian Gandolf Graf Khuenburg im Jahre 1676 gewidmeten Sonaten bezeichnet sich Biber als „musicus et cubicularius“. Ab 1677 war er Lehrer der Dom-Singknaben im Figuralgesang; 1684 wurde er Präfekt des Sängerknaben-Instituts. Seine Ernennung zum Vizekapellmeister erfolgte am 12. Januar 1679. Am 6. März 1684 wurde er in das Hauptkapellmeisteramt berufen und erhielt zudem den Titel eines Truchsessen. 1690 wurde er vom Kaiser geadelt. Gerade die beiden Kompositionszyklen für Violino solo e basso, die 1681 in Nürnberg erschienenen 8 Sonaten und die wahrscheinlich auf 1684 zu datierenden sogenannten Rosenkranzsonaten gelten als Gipfel der Violinkunst des 17. Jahrhunderts.
Irvine Arditti
Neben seiner außergewöhnlichen Karriere als Primus des Arditti Quar-tetts setzt Irvine Arditti seine Tätigkeit als überragender Solist weiter fort. Geboren 1953 in London, begann Irvine Arditti seine Ausbildung an der Royal Academy of Music im Alter von 16 Jahren. Er wurde 1976 vom London Symphony Orchestra engagiert; zwei Jahre später im Alter von 25 Jahren wurde er zum stellvertretenden Konzertmeister des Ensembles berufen. Er trennte sich 1980 vom Orchester, um dem Arditti-Quartett, das er als Student gegründet hatte, mehr Zeit widmen zu können.
Im vergangenen Jahrzehnt hat Irvine Arditti eine Vielzahl von Weltpremieren großer Werke aufgeführt, die für ihn komponiert worden sind, darunter Xenakis Dox Orkh und Hosokawas Landscape III, beide für Violine und Orchester, sowie Ferneyhoughs Terrain, Francesconis Riti Neurali, Dillons Vernal Showers und Harveys Scena, letztere für Violine und Ensemble. Er ist mit zahlreichen renommierten Orchestern und Ensembles aufgetreten, wie dem BBC Symphony Orchestra, dem Rundfunkorchester Berlin, dem Royal Concertgebouw Orchestra, den Münchner Philharmonikern, der Jungen Deutschen Philharmonie, dem Orchestre National de Paris, dem Rotterdam Philharmonic, Het Residentie Orkest, dem Asko-Ensemble, Nieuw Ensemble, Schoenberg Ensemble, London Sinfonietta und Contrechamps.
Seine Kontakte zu zeitgenössischen Komponisten haben viele von ihnen so begeistert, dass sie seine Konzertaufführungen nicht verpassen wollten, beispielsweise seine israelische Premiere von Gubaidulinas Offertorium in Jerusalem oder seine Tanglewood-Aufführung von Dutilleuxs Violinkonzert, beide 1998. Ligeti hat Arditti seine Dankbarkeit dafür ausgedrückt, dass er seine tiefe Erfahrung mit zeitgenössischer Musik in die Interpretation von Ligetis Violinkonzert eingebracht hat.